Wie KI Menschen mit ADHS helfen könnte und wo sie vielleicht überfordert „abtaucht“
Zwischen Fokusflamme und Daten-Overload: Warum künstliche Intelligenz nicht unser Hirn ersetzen kann aber vielleicht ein einfühlsamer Begleiter wird.
Ich sitze am Laptop. Eigentlich wollte ich diesen Artikel schreiben. Doch vorher schnell noch die E-Mails checken. Und wenn ich eh schon im Postfach bin, kann ich ja auch die Rechnung von letzter Woche endlich bezahlen. Mist, wo ist nochmal das Passwort für das Kundenportal? Ah, in der Passwort-App. Und wenn ich da schon drin bin – wow, wie viele veraltete Einträge da rumgammeln. Vielleicht kurz aufräumen?
Das nennt man ADHS-bedingtes Multitasking-Desaster Deluxe.
Seit ich mit künstlicher Intelligenz arbeite, sei es zum Strukturieren, Brainstormen oder recherchieren – frage ich mich regelmäßig: Wie bitte konnte ich vorher ohne? Und noch viel mehr: Wird KI in Zukunft vielleicht genau das leisten, was mein Gehirn im Alltag einfach nicht zuverlässig hinbekommt?
Die große Hoffnung: KI als Fokus-Assistent
Stell dir vor, du wachst auf und statt dass dein Hirn sofort im Hintergrund 27 Tabs aufmacht („Küche aufräumen – Ach Mist, die Müllsäcke – Apropos Müllsäcke, wann war nochmal die nächste Tonnenleerung?“), meldet sich deine persönliche KI-Stimme und sagt freundlich, aber bestimmt:
„Guten Morgen! Heute ist Dienstag. Deine wichtigste Aufgabe ist: Die Präsentation fertigstellen. Ich habe dir dafür einen Zeitblock freigehalten und schon mal die wichtigsten Unterlagen sortiert. Möchtest du starten oder brauchst du erst einen Espresso und 10 Minuten Update zu den wichtigsten Nachrichten zur Aufwärmung?“
Also ehrlich – ich würde es lieben.
Eine smarte KI könnte zukünftig…
… Termine priorisieren und verständlich runterbrechen („Nein, der Call ist nicht morgen – er ist in 34 Minuten“).
… Dopamin-kompatible To-Do-Listen kuratieren, also kleine, machbare Häppchen statt 98 Punkte in roter Schrift.
… Routinen erkennen und vorschlagen („Dir fällt immer donnerstags um 23 Uhr ein, dass du die Steuer machen musst – wollen wir das vielleicht vorverlegen?“).
… Impulskäufe sanft ausbremsen („Du hast in den letzten 48 Stunden fünf Produktivitäts Bücher gekauft. Möchtest du vielleicht erstmal eins davon lesen?“).
All das klingt himmlisch. Und tatsächlich: Erste Prototypen solcher Tools gibt es bereits – kombiniert mit Kalender, Spracherkennung, Erinnerungen und Stimmungs-Tracking. Also quasi ein digitales Exekutiv-Funktions-Upgrade.
Aber Moment mal: Ist das noch Hilfe oder schon Kontrolle?
So verlockend es ist, die eigene mentale Zettelwirtschaft an eine smarte Superstruktur auszulagern – da ist auch ein Haken. Oder besser gesagt: gleich mehrere.
Daten, Daten, Daten
Damit eine KI hilfreich sein kann, muss sie uns gut kennen. Also sehr gut. Schlafzeiten, Gefühlslagen, Surfverhalten, Einkaufslisten – am besten alles. Doch was passiert mit diesen Daten? Wer darf sie auswerten? Und was, wenn die KI irgendwann besser weiß, was „gut für mich“ ist als ich selbst?
Die gute alte Reaktanz
Menschen mit ADHS haben oft ein Problem mit äußeren Ansagen. Auch wenn wir sie selbst eingestellt haben. Wenn mich meine eigene KI zu etwas drängt, das ich eigentlich selbst wollte – ist das dann noch meine Entscheidung? Oder fühlt es sich an wie ein weiterer nerviger Reminder, den ich schnell wieder ignoriere?
Überanpassung statt Selbstführung
Was, wenn ich beginne, meine Entscheidungen zu stark an den Empfehlungen der KI auszurichten? Nicht mehr frage: Was brauche ich gerade?, sondern nur noch: Was schlägt das System vor? Eine smarte Struktur ist großartig – solange sie uns nicht unsere Intuition abtrainiert.
KI als Kompass, nicht als Steuermann
Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo zwischen Erleichterung und Entfremdung. KI kann Menschen mit ADHS zukünftig enorm entlasten – beim Strukturieren, Erinnern, Priorisieren. Aber sie wird nie die innere Arbeit ersetzen, die nötig ist, um mit sich selbst gut in Einklang zu bleiben.
Vielleicht ist sie wie ein Kalender: hilfreich, wenn ich ihn bewusst nutze. Nervig, wenn er mein ganzes Leben bestimmen will. Und nutzlos, wenn ich ihn einfach ignoriere (was leider auch oft passiert).
Wir brauchen keine allwissende KI – wir brauchen einen empathischen Assistenten
Am Ende wünsche ich mir kein Superhirn als KI-Begleiter. Sondern eher so etwas wie einen smarten, geduldigen Sidekick. Eine Art digitale ADHS-Wingman oder -woman, die mir hilft, meine Stärken besser zu leben – ohne meine Eigenarten wegbügeln zu wollen.
Denn ja, ich werde auch mit KI zwischendurch in der Passwort-App versacken. Und das ist okay. Solange ich jemanden habe, der mich mit einem Augenzwinkern daran erinnert, dass ich eigentlich diesen Artikel schreiben wollte.
Danke, KI. Und jetzt: Fokus zurück.
Was denkst du darüber?
-Moritz